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Kindesmissbrauch – Täter, Wegbereiter, Unterstützer

Nein, NRW nimmt im Zusammenhang mit den ständig neuen Missbrauchmeldungen keinen Spitzenplatz ein. Dennoch gibt es auch im Land zwischen Rhein und Weser reichlich Vorkommnisse. Aber die bis jetzt bekannt gewordenen Fälle bilden nur die Spitze eines Eisbergs. Denn – was Medien in ihren teilweise aufreißerischen Berichten außer Acht lassen – ist ein trauriger Fakt: Missbrauch findet fast immer im persönlichen Umfeld der Opfer statt. Die Täter sind dann oft Väter, ältere Brüder oder nahe männliche Verwandte. Würden diese Fälle ebenso zu Schlagzeilen summiert, könnte NRW auch schnell als bevölkerungsreichstes Bundesland in die Spitzenposition geraten.

Ob familiäres Umfeld, Sportvereine, staatliche Institutionen oder kirchliche Einrichtungen, die Verfehlungs-Liste und die damit verbundene Spur der seelischen Blessuren ist lang. „Den meisten Opfern geht es darum, sich endlich einmal mitzuteilen“, sagte jüngst einer der jetzt überall installierten Ansprechpartner. Wenigstens werde so die seit Jahren wirkende Schockstarre überwunden. Denn da gibt es Menschen, welche sich seit ihrer Kindheit oder Jugendphase mit einem düsteren Geheimnis abschleppten. 20 oder gar 40 Jahre haben sie auf Stumm geschaltet. Nur nicht mehr dran denken, die ehemals klaffenden Wunden der Seelen könnten erneut heftige Schmerzschübe auslösen. Scham und Ohnmacht prägten das Verhalten. Die vielen lautlosen Schreie zum Himmel blieben unerhört.

Wo waren die Eltern, Mütter oder andere nahe Bezug-Personen in der Zeit des Missbrauchs? Haben die Kinder von Anfang an geschwiegen oder wurden sie durch ihr Umfeld ruhig gestellt, weil man ‚so etwas’ niemand zu unterstellen hat? War die Autoritäts-Gläubigkeit so groß, dass dem eigenen Fleisch und Blut die Unwahrheit oder Übertreibung unterstellt wurde? Hatte man/frau Sorge, sich dem „freizügigen und modernen Zeitgeist“, der sogenannten „sexuellen Befreiung“ entgegenzustellen? Oder waren die Wahrnehmungsorgane der Haupt-Bezugspersonen bei ihrem ständigen Kreisen ums eigene Ego so mit Hornhaut überwuchert, dass sie deshalb gar nicht bemerkten, was in Ihren Kindern vorging?

Kein Kinderschänder wird als solcher geboren. Welche Voraussetzungen müssen also existieren, dass der Missbrauch gedeihen kann? Schwache Menschen suchen den Kontakt zu Schwächeren, um so das Gefühl von Stärke, Überlegenheit und Kontrolle ausüben zu können. Die Kompensations-Formel ist einfach und verwerflich zugleich: Das Kleinmachen eines Gegenübers verschafft diesen Menschen das Gefühl von Größe und Macht. Da solche Personen in der Regel stark bindungsgestört sind und sich minderwertig erleben, versuchen sie auf leichte Weise, Nähe zu erfahren, um so den selbst erlittenen Beziehungsmangel auszugleichen. Ein besonders „attraktives“ Feld für solche Bestrebungen ist der Bereich Sexualität, weil sich hier Nähe-Erfahrung, Dominanz und Unterwerfung mit einer hormonellen Triebreduktion verbinden lassen. So sind Kinder „ideale“ Opfer für solch pervertierte Aktionen. Der normalerweise bei Erwachsenen vorhandene Beschützerinstinkt für Kinder kehrt sich hier ins Negative um. Nach Gordon Neufeld (Vancouver 2010) tritt die folgende Situation ein: „Anstatt sich der Erwachsene dazu veranlasst fühlt, für die Schwachen und Verletzlichen zu sorgen, ist er getrieben, sie auszunutzen“.

Und ja, auch die Folgen der 68er-Umbrüche in unserer Gesellschaft haben einen Anteil. Denn wenn es in unserem Land politische Bestrebungen gab, in einem Abwasch mit der großen Sexualstrafrechtsreform 1980 auch den § 176 – hier wird der sexuelle Missbrauch von Kindern unter Strafe gestellt – ersatzlos zu streichen; der Sexualforscher Prof. Kentler – ein bekennender Pädosexueller – unwidersprochen öffentlich die „freie Liebe“ mit Kindern fordern, sich als Gutachter an deutschen Gerichten betätigen sowie in „wissenschaftlichen Studien“ empfehlen konnte, der Pornographie-Paragraph restlos aufgeweicht wurde und sich etliche Zeitgenossen – unter dem Vorzeichen eines angeblich reformpädagogischen Humanismus – als Protagonisten eines erotisch-lustvollen, sexuell befreiten Umgangs mit Kindern betätigen konnten, hat auch die Politik reichlich Anlass zur eigenen Problem-Aufarbeitung. Dann sollten jene selbst bzw. durch das Handeln ihrer Parteien involvierten Politiker, welche die „Unfähigkeit der katholischen Kirche, mit dem Missbrauchsskandal angemessen umzugehen“ als erschreckend bezeichnen, auch einmal die eigene Mitwirkung bei der Anlage und der Pflege der Mistbeete, in welchen falsche Kindesliebe und eine schrankenlose sexuelle Nimm-Mentalität wuchern konnten, selbstkritisch und reuevoll überdenken.

Nein, der Missbrauch steht noch nicht am Pranger, nur ein kleiner Prozentsatz von Tätern. Denn ginge es um die Ächtung von Missbrauch, dann müssten die ca. 80 Prozent derzeit nicht im Blick liegenden Täter und die vielen Wegbereiter, Unterstützer und Wegseher mit aller Macht in die Schranken verwiesen werden. Und manche journalistische oder politische Attacke auf kirchliche Institutionen würde dann auch nicht mehr von der eigenen Mitverantwortung abzulenken versuchen. Solchen Vorkommnissen wird erst dann weitestgehend der Garaus gemacht, wenn wir wieder eine neue Achtsamkeit im Umgang mit unseren Kindern und im Umgang mit Sexualität insgesamt entwickeln.

Zur Person

Dr. Albert Wunsch ist Erziehungswissenschaftler, Psychologe und Konflikt-Coach. Er lehrt an der Uni Düsseldorf, der KatHO Köln sowie der PTHV in Vallendar und arbeitet in eigener Praxis in Neuss als Paar- und Erziehungs-Berater. Seine Bücher „Die Verwöhnungsfalle“ und „Abschied von der Spaßpädagogik“ lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachraum bekannt.

Bildquellen (Titel/Herkunft)

  • Kind: NRW.jetzt

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