Kinderbetreuung in Nordrhein-Westfalen: Ein großes potemkinsches Dorf
Ein Gastbeitrag von BIRGIT KELLE
Kinder kommen immer früher in eine Kita, so verkünden die aktuellen Jubelmeldungen in Nordrhein-Westfalen. Grund genug, die Zahlen ein bisschen zu sortieren, denn zwischen Tagesmüttern, Krippe, Kindergarten oder Kindertagesstätte (Kita) unterscheidet in der Berichtserstattung kaum noch jemand. Es ist aber durchaus relevant, wenn man die Entwicklung realistisch betrachten oder gar daraus ableiten möchte, an welcher Stelle mehr Bedarf besteht – oder auch weniger. Leider machen es einem die Zahlen, die der Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW) in seinen regelmäßigen Bildungsreporten veröffentlicht, nicht gerade einfach, diese Unterscheidung vorzunehmen. Möglicherweise ist das Zusammenwerfen verschiedener Betreuungsformen in einen Topf auch politisch gewollt, um die Jubelmeldungen nicht durch relativierende Fakten zu unterbrechen.
Fakt ist erst einmal, dass in NRW rund 92 Prozent aller Kinder ab drei Jahren in den Kindergarten gehen. Das ist Bundesdurchschnitt, manche Bundesländer schaffen fast 97 Prozent, andere verharren unter 90 Prozent. Also alles beim Alten und auch nicht viel Bewegung in der Zahl, denn rund 90 Prozent waren es auch in NRW bereits im Jahr 2010. Nun meldet die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ) aktuell, dass immer mehr Kinder in NRW in eine Kita gingen, und gar knapp 50 Prozent der Zweijährigen regelmäßig die Kita besuchten. Leider gibt die Statistik, auf die man sich in dem Artikel bezieht, diese Information gar nicht her, denn im Bildungsreport steht nicht „Kita“ sondern die Gesamtzahl von Kindern unter drei Jahren, die in irgendeiner Form fremdbetreut werden. Das heißt: Jedes Kind, das auch nur einmal pro Woche für ein paar Stunden bei einer Tagesmutter ist, füttert hier die angebliche 50-Prozent-Kita-Marke mit an. Damit wird der Eindruck erweckt, es gäbe einen unheimlichen Andrang und Anstieg insgesamt und als sei es auch noch von den Eltern so gewollt. Die WAZ wagt gar die These, „der Besuch einer Kindertageseinrichtung“ habe „für die meisten Eltern eine hohe Bedeutung für den weiteren Bildungsweg der Kinder“, und bezieht sich auch auf den Bildungsreport. Eine Befragung der Eltern, warum sie ihr Kind in eine Kindertagesstätte oder zu einer Tagesmutter geben, wurde allerdings gar nicht vorgenommen bei dieser Statistik. Es ist also reine Spekulation, denn im Bericht heißt es einfach: „Kindertageseinrichtungen sind Bildungseinrichtungen, die die Vorbereitung und den Übergang in die Grundschule gestalten. Der Besuch einer Kindertageseinrichtung hat demnach eine hohe Bedeutung für den weiteren Bildungsweg“. Das Wort Eltern kommt dort gar nicht vor und schon gar nicht eine Überprüfung der Frage, ob die Qualität der Betreuung in den Kitas von NRW einen echten Bildungsvorteil gegenüber anderen Betreuungsformen – wie zum Beispiel durch die eigenen Eltern – haben könnte.
Lesen hilft aber an anderer Stelle, nämlich bei der Statistik zu den Betreuungsschlüsseln. Die sind in NRW auch nicht gerade rosig, wie die Bertelsmann-Stiftung bereits Mitte vergangenen Jahres festgestellt hat. Der unterirdische Personalschlüssel auf dem Papier wird dabei von zahlreichen Bundesländern in der Realität auch noch unterboten. Denn in den amtlichen Statistiken zum Personal wird nicht eingerechnet, dass Erzieherinnen wegen Krankheit, Fortbildung und Dokumentationspflichten einen Teil ihrer Zeit nicht mit den Kindern verbringen können, in dieser Zeit also der Personalschlüssel noch einmal sinkt. NRW schafft zumindest in den Krippen-Gruppen für unter Dreiährige einen Personalschlüssel von 3,4 Kinder auf eine Erzieherin. Leider schafft man es nicht in den altersgemischten Gruppen, in die neuerdings die Zweijährigen mit hineingepackt werden. Dort ist eine Erzieherin in NRW für fast acht Kinder zuständig. Wieviel Zeit da noch in „Bildungsarbeit“ investiert werden kann, ist fraglich. Zumal die Bertelsmann-Studie ergab, dass sich die Bildungschancen der unter Dreijährigen derzeit in den „Gruppen für Kinder unter vier Jahren, altersübergreifenden Gruppen (bis zum Schuleintritt) und für Zweijährige geöffnete Kindergartengruppen verschlechtern. Letzteres sind Gruppen für Kinder ab drei Jahren, die auch Zweijährige besuchen.
Kommen wir also zu den Fakten, die sich anhand von Zahlen beweisen lassen: Tatsächlich ist es so, dass die Zahl der Kinder unter drei Jahren, die eine Krippe besuchen oder von einer Tagesmutter betreut werden, in NRW extrem niedrig ist. Genaugenommen hat NRW sogar mit 23,7 Prozent den niedrigsten Wert bundesweit. Diese Zahl findet man aber nicht im Bildungsreport NRW, sondern beim Statistischen Bundesamt. Das Ost-West-Gefälle ist dabei enorm. Die Betreuungsquote betrug im März 2014 in den westdeutschen Bundesländern durchschnittlich 27,4 Prozent, in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) war sie mit 52 Prozent fast doppelt so hoch.
Anders sieht es bei den Kindern ab zwei Jahren aus. Dort kratzt man in NRW an der 50-Prozent-Betreuungs-Marke. Allerdings ist nicht klar erkennbar, wo genau und schon gar nicht, wie lange die Kinder betreut werden, weil diese Zahlen einfach nicht veröffentlichst werden. Tagesmütter, die staatlich subventioniert werden und Krippen-Plätze werden statistisch in einen Topf geworfen. Gar keine Zahlen gibt es über privat organisierte Betreuung. Fündig wird man allerdings im Bildungsreport NRW aus dem Jahr 2009. Damals war es noch so, dass nahezu 60 Prozent aller Kinder unter drei Jahren, die in einer Fremdbetreuung sind, nicht in einer Krippe, sondern bei einer Tagesmutter waren. Auch das Statistische Bundesamt hat Zahlen mit Stichtag 2012. Demnach ist auch wieder gerade in NRW die Kinderbetreuung bei Tagesmüttern bundesweit am höchsten mit 30 Prozent, während der Bundesdurchschnitt bei rund 23 Prozent liegt.
Warum die Zahl der Kinder unter drei Jahren, die bereits in einer Krippe sind, dennoch deutlich ansteigt, wird inhaltlich nicht diskutiert, sondern grundsätzlich einfach mal so als Erfolgsmeldung verbucht. Fakt bleibt bundesweit, dass durch die Ausweitung der U3-Betreuung, die Zahl der Plätze für Kinder über drei Jahre sinkt. Um die Plätze für die Kleinsten zu schaffen, wurden in vielen Kindergärten einfach Plätze für größere Kinder umgewandelt in U3-Plätze. Eltern sehen sich also zunehmend mit dem Problem konfrontiert, dass sie ihr Kind schon mit zwei Jahren anmelden und hinbringen müssen, wenn sie einen sicheren Platz haben wollen, sobald das Kind drei ist und sie an den Arbeitsplatz zurückkehren müssen, um ihren Anspruch darauf nicht zu verlieren. In zahlreichen Kindergärten wurden auch die Gruppen für Kinder ab drei Jahren für Zweijährige geöffnet, das sind die altersgemischten Gruppen, von denen – siehe oben – die Bertelsmann-Stiftung sagt, sie böten für die Kleinen die geringsten Bildungschancen. Auch hier wird einfach Masse erzeugt, statt Klasse. Die Zahl der Kinder die bei Tagesmüttern betreut wird, ist also auch deswegen relativ gesunken, weil Eltern im Kindergarten auf Nummer sicher gehen müssen.
Das Magazin „Focus“ berichtete schon im Sommer 2014 unter dem Titel „Verrat an der Familie“, wie Mütter in die Berufstätigkeit gedrängt werden und deswegen immer früher eine Betreuung in Anspruch nehmen müssen. Nicht weil sie es so wollen, oder gar wie sich die WAZ freut, an einen höheren Bildungserfolg ihrer Kinder glauben, sondern weil ihnen schlicht und ergreifend nichts anderes übrig bleibt.
Gar nicht erwähnt bleibt zum Schluss die enorm angestiegene Zahl von Familien in NRW, die das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen. Hier steht NRW im bundesweiten Vergleich an Platz 3 nach Bayern und Baden-Württemberg. Die Nachfrage ist also hoch.
Selbst der „Spiegel“, der monatelang behauptet hatte, niemand wolle das Betreuungsgeld, schreibt inzwischen unter dem Titel: „Das Betreuungsgeld boomt“, dass die Leistung für Eltern, die ihre Kinder selbst erziehen wollen, extrem gut angenommen wird und die Antragszahlen vermutlich noch steigen werden. Der Grund für den verhaltenen Start des Betreuungsgeldes lag demnach daran, dass sich zahlreiche Bundesländer nahezu gesperrt hatten, die Umsetzung der politisch hier unerwünschten Leistung effektiv zu organisieren, und wegen wahrscheinlich absichtlich schlechter Informationspolitik viele Eltern gar nicht wissen, dass sie einen Anspruch haben. Auch in NRW war das anfangs so, Eltern berichteten, es sei eine telefonische Odyssee gewesen, überhaupt zu erfahren, wo man denn seinen Antrag stellen darf, weil vor allem die rot-grün-regierten Bundesländer die Einführung schleifen ließen. Dass es auch anders geht, hatte Bayern vorgemacht. Dort wurde allen antragsberechtigten Familien im Land ein Formular zugesandt.
Bleibt im Fazit festzustellen: Die amtlichen statistischen Zahlen in NRW zeigen einen Anstieg der Fremdbetreuung vor allem bei Kindern ab zwei Jahren, darunter ist die Betreuungsquote sehr gering. Wer genau die Kinder betreut, ob Krippe oder Tagesmutter, wird verschleiert, und die Frage warum Eltern ihre Kinder immer früher fremdbetreuen lassen, wird gar nicht erst gestellt.